500 Jahre Bollwerk – ein Aufsatz von Winfried Wackerfuß
Die charakteristische Silhouette Lichtenbergs –
… und schließlich noch weiter im Westen auf der Höhe der “Altscheuer” der Ringwall Heuneburg, der in älteren Topographien auch als “altes Schloss” bezeichnet wird. Schloss Lichtenberg, das Bollwerk und die Heuneburg sind nicht nur die bedeutendsten Denkmäler Fischbachtals und dieser Region, sondern sie sind auch Beispiel einer Befestigungskontinuität, welche diesen ausgesprochenen Mittelpunktsraum, das Kernland des früheren Amtes Lichtenberg, durch die Jahrhunderte hindurch sicherte.
Bis zum Jahre 1570, dem Beginn der Erbauung des Schlosses Lichtenberg, so wie es sich heute darbietet, stand an dieser Stelle eine Burg der Grafen von Katzenelnbogen, die zu diesem Zeitpunkt weitgehend dem Schlossbau weichen musste. Lediglich die Vorburg im unteren Teil der Anlage und das “alte Katzenelnbogener Schloss’ im Bereich der heutigen Schlossterrasse, das 1845 schließlich einstürzte, blieben damals bestehen. Davor lag noch die ebenfalls befestigte Burgsiedlung, ursprünglich überwiegend aus Behausungen der Burgmannen bestehend, für die, zusammen mit Groß-
Welche Bedeutung hat überhaupt dieser große runde Turm, das Bollwerk, der in rd. 400 m Entfernung vom Schloss bzw. der Burg, weit außerhalb dieser Befestigungsanlagen errichtet wurde?
Das Wissen um die ursprüngliche Funktion dieses Turmes scheint schon vor 200 Jahren recht unklar oder verblasst gewesen zu sein. So schreibt z.B. A. Paul in seiner “Kurzgefassten statistisch-
Das Bollwerk vermutlich also als Sitz eines heimlichen Gerichts, des berüchtigten Vemegerichts? Der Wahrheit etwas näher kommt da schon 4 Jahre später der bekannte Topograph Wagner in seiner Beschreibung des Landratsbezirks Reinheim, wenn er schreibt: “Das Bollwerk befindet sich nicht weit vom Schlosse, ist ein runder, halbverfallener, mit Gesträuch bewachsener Thurm, der von ausnehmender Festigkeit ist,” und damit die charakteristische Stärke und Wuchtigkeit diese Turmes herausstellt. Letztlich erschließt sich Sinn und Zweck dieser Anlage, als ein –
Der Turm ist 15 m hoch, hat einen Durchmesser von 18,90 Metern und einen Umfang von 60 m. Das ebenerdige untere Geschoss besitzt eine Mauerstärke von 5,80 Metern. Zur Verteidigung des Eingangs ist unmittelbar darüber eine Pechnase mit gotischem Maßwerk angebracht, zur Abwehr des bis an den Eingang vorgedrungenen Feindes, durch die man kochende Flüssigkeit schütten konnte. Sowohl der ebenerdige runde Innenraum wie auch der im ersten Geschoss, zu dem eine in die Mauer eingebaute Treppe führt, sind kuppelförmig mit Backsteinen eingewölbt und haben eine lichte Weite von 7,30 m. Im ersten Geschoss befinden sich Schießnischen, die gerade so groß sind, dass ein Büchsenschütze darin stehen und sich bewegen konnte. Der Einbau einer Abortanlage zeigt, dass man sich auch auf längere Aufenthalte in dem Turm eingerichtet hat. Neben der Pechnase ist eine größere Schießkammer, welche man für sich verschließen und verrammeln konnte. Das oberste, offene Geschoss diente als Wehrplatte der Aufstellung von größeren Geschützen. Ein kreisrunder Schacht verbindet in der Mitte des Turmes die einzelnen Stockwerke. Er diente nicht nur als Abzug für den Pulverdampf, sondern auch zum Transport von Geschützrohren und anderen Gegenständen und zur Durchsage von Befehlen. Die Außenmauer des Turmes ist durchbrochen von Schießscharten (sog. Maulscharten) und Abzugslöchern der Kanäle für Pulvergase. Den Zweck als vorgeschobener und mit Pulverschusswaffen armierter Batterieturm unterstreicht auch seine Lage auf einem Felskopf, womit er weithin die Gegend beherrscht.
Geradezu schwärmerisch lässt sich Johannes Feick vor fast genau einhundert Jahren über die prächtige Rundsicht aus, die man von den Zinnen des Bollwerks hat. Ich zitiere: “Nach Norden schweift nämlich der Blick über GroßBieberau, Reinheim, Dieburg bis Frankfurt, wo die blauen Linien des Vogelsberges und Spessarts den Blick begrenzen. Ostwärts ist der Otzberg und der östliche Odenwald sichtbar, vor uns liegen Städtchen und Schloß Lichtenberg, im Thal dahinter Obern-
Diese geradezu enthusiastische Beschreibung, die einem Fremdenverkehrsprospekt entnommen sein könnte, lässt unwillkürlich an die Möglichkeiten einer weiten Rundumsicht denken, wie sie zahlreiche Warttürme aus dem ausgehenden Mittelalter in unserer Landschaft bieten. Für die Wahl des Standortes waren freilich primär strategische Gesichtspunkte maßgebend, ist der Turm doch so angelegt, um flankierend in die Straße von Rodau schießen zu können und um die Anmarschstraße zum Schloss hinauf abzuschnüren. Seine Aufgabe war es also, die Zufahrten zur Siedlung und das Schloss selbst zu schützen. Veränderungen im Kriegswesen, vor allem durch die Erfindung des Schießpulvers, machten den Umbau der mittelalterlichen Burg zu einer neuzeitlichen Festung notwendig. Dabei kam es auch darauf an, einen Angreifer schon im Vorfeld mit weitreichenden Waffen abzuwehren bzw. ihn durch geeignete Verteidigungsanlagen von der Kernanlage auf Distanz zu halten.
Die Angaben über die Erbauungszeit schwankten ursprünglich ganz erheblich und reichten von etwa dem Jahre 1400 bis etwa 1520, bis sich vor einiger Zeit in dem mittelalterlichen Rechnungsbestand des Staatsarchivs Marburg die Baurechnung für das Bollwerk aus dem Jahre 1503 fanden. Sie trägt die Überschrift: “Ußgyfft buwegelts im ampt Lichtenbergk an dem bolwerck uff dem Gogelitz verbewet worden” Ihr lassen sich die folgenden aufschlussreichen Angaben entnehmen: Über das ganze Jahr 1503 sind Steinbrucharbeiten überliefert, dazu 2.808 Malter Kalk sowie 16.700 Backsteine, die man “auf der Hütte bei Worms” gekauft hatte. Die drei Zimmerleute Hans, Ewald und Peter brauchten insgesamt 20 Tagwerke für die Arbeit am Baukran, wofür sie 3 Goldgulden und 2 Albus bekamen. Im Juli 1503 begannen die Entlohnungen für die Maurer. Die Bauarbeiten wurden von Steinmetzmeister Hans geleitet, dem durchschnittlich 14 Maurer und 10-
Neben den genannten Arbeiten der Handwerker wurde ein erheblicher Teil der Arbeiten am Bollwerk –
Konkreter Anlass für die Verstärkung der Festung Lichtenberg durch den Bau des Bollwerks im Jahre 1503 dürften die Spannungen und der Streit zwischen Landgraf Wilhelm II. und Pfalzgraf Philipp über die pfälzischen Lehen in der Obergrafschaft und das Wittum der Witwe Landgraf Wilhelms III., Elisabeth von der Pfalz, gewesen sein, weswegen in diesem Jahr ein Krieg zwischen Hessen und Kurpfalz auszubrechen drohte. Zu schweren kriegerischen Handlungen kam es dann schließlich ein Jahr später, 1504, im Rahmen des bayrisch-
Vor allem der Dreißigjährige Krieg brachte gerade für diese Region immer wieder neue Not-
Über Lichtenberg lesen wir in der “Minckschen Chronik” u.a.:
1622: “Der Graff von Mansfeld … kompt mit großer macht in Darmbstatt und dass gantze Land, plündert alles auss, ausgenommen Lichtenbergk…”
1634: “Lichtenbergk, Rüsselsheim und Otzbergk … plieben allein salvirt (bewahrt), wurden aber dermaßen von beeden parteyen geschätzt und beträngt, dass sie doch allen vorrath herauslangen musten.” “Darumb flohe alles auff die schlößer, da lagen alle gaße, Höffe und Winckell voller leutte, besonders zu Lichtenbergk, weiches ein klein beheiff, und derhalben auch vielle im regen, schnee und kälte under freyhen himmel lagen, theyls lagen in fäßern und büdden, die stubben waren winters Zeitt so voll, dass wegen der menge keines sitzen, sondern dücht ineinand stehn musten, war ein gross Jammer und Elend anzusehen, zu geschweigen selbsten mit darin begriffen sein.”
Und zu 1635: “inzwischen und neben der kriegs-
Die Landgrafen von Hessen-
Daneben war Lichtenberg schon früh Verwaltungsmittelpunkt, Sitz eines Amtes. Diese Umstände machten auch eine entsprechende militärische Besatzung erforderlich. Waren mit der Burghut ursprünglich noch adelige Lehensträger aus der Umgebung und teilweise das Aufgebot der Centmannschaft betraut, so war mit dem Ausbau Lichtenbergs zur Festung dafür auch noch eine größere Anzahl spezialisierter Kräfte notwendig, die auch mit den Geschützen umgehen konnten. Die Größe der Besatzung richtete sich dabei allerdings nach den jeweiligen möglichen Bedrohungen von außen. So befahl z.B. die Regentin Elisabeth Dorothea 1684, dass –
Doch schon 4 Jahre später, während der Eroberungskriege Ludwigs XIV. von Frankreich, erhielt Lichtenberg 1688 auf Weisung Landgraf Ernst Ludwigs eine Besatzung von 60 Mann unter einem Leutnant, mit dem ausdrücklichen Befehl, weder Franzosen noch andere Völker einzulassen. Danach ging es mit der Bedeutung Lichtenbergs als Festung rasch zu Ende.
1703 beschwerte sich der Oberamtmann zu Lichtenberg von Hartenfels beim Landgrafen über den Verfall der Verteidigungswerke und den schlechten Zustand der Kanonen. Im Frühjahr 1735 wurden die Befestigungen und Geschütze letztmals ausgebessert. Damals fand sich noch folgendes Inventar vor: Auf dem Bollwerk: 3 metallene Stücke (= Kanonen) von 6 1/2 –
Auch der Umstand, dass 1740 Lichtenberg als Witwensitz von der landgräflichen Familie aufgegeben und geräumt wurde, machte eine größere Besatzung und Armierung der Festung Lichtenberg nun nicht mehr notwendig. In diese Zeit gehört wohl auch die Randbemerkung, welche sich in einem Exemplar der Darmstädter Landesbibliothek von Winckelmanns Beschreibung über Hessen befindet. Es heißt da:
“Nahe an dem Schlosse Lichtenberg liegt ein alter, ziemlich hoher, stumpfer Turm, da man mit einer ziemlich hohen Leiter hinansteigen muß, mit einer gewaltigen dicken Mauer, drei Stockwerke über einander, darauf steht ein Kl(ein) Wachthaus und 2 Metallene Stücke, eins mit dem Wallbrunnischen Wappen, das andere ein Falconet. Dieser Thurm als eine Warte, muß sehr alt seyn, und findet sich nirgends eine Jahr Zahl daran. Kann man von oben biß unten in der Mauer hinunter gehen, unten ist ein Thor gewesen, so aber zugemauert ist.”
Schließlich wurden im Jahre 1770 die noch in Lichtenberg befindlichen Doppelhacken nach Darmstadt verbracht und auch die Festungsanlagen nicht weiter instand gehalten, ja späterhin sogar teilweise abgebrochen.’ Nach der Auflösung des Oberamtes Lichtenberg und der Verlegung des Landgerichtes nach Reinheim am Anfang bzw. um die Mitte des 19. Jahrhunderts war gerade mal ein Wärter für das gesamte Wachtwesen der ehemaligen Festung Lichtenberg übriggeblieben.
Es mutet uns heute geradezu skurril an, wenn wir aus Berichten von Augenzeugen dieser Zeit lesen, dass die oberste Plattform (Plateau) des ehemaligen runden Schutzturmes neben dem Haupteingang des Schlosses dem Pförtner 1847 zum Blumengärtchen diente und dass er gleichzeitig auf einem anderen viereckigen Verteidigungsturm, der zuweilen als Gefängnis gebraucht wurde, Runkelrüben pflanzte, zu denen man nur mittels einer Leiter gelangen konnte. Während diese Türme heute verschwunden sind, hat das Bollwerk relativ unbeschadet die Zeit überstanden.
Mit dem Verlust seiner Funktion rückte auch das Bollwerk eine Zeitlang aus dem Blickpunkt des Interesses und verfiel in einen Dornröschenschlaf. 1827 war seine oberste Plattform verwildert, mit Gesträuch bewachsen; 1924 gedieh hier oben sogar noch ein Kirschbaum und trug Früchte. Wenn wir dann noch hören –
Ein halbes Jahrtausend ist eine lange Zeit, eine kleine Ewigkeit. Für diese Zeitspanne haben wir nun von außen auf die Entwicklung des “Jubilars” geschaut.
Wechseln wir doch einmal kurz die Perspektive, um diese Zeitspanne so recht deutlich und lebendig werden zu lassen und fragen uns, wovon die Steine des Bollwerks in knappen Streiflichtern erzählen könnten, z.B.
von der beschwerlichen, schweißtreibenden Arbeit des Steinebrechens in den Steinbrüchen den knarrenden und ächzenden schwerbeladenen Wagen der Fronpflichtigen den Flüchen und dem Jammern der Fröner über die gleichzeitig zu Hause liegen gebliebene Arbeit auf den Höfen
den Kommandos und schrillen Anweisungen der Bauleute
den lobenden Worten des Amtmannes bzw. des Landgrafen bei der ersten Besichtigung des fertigen Turmes
dem donnernden Krach der Geschütze, seinem Nachhall in den Tälern um Lichtenberg, dem Pulverdampf und den hektischen Kommandorufen der Offiziere
dem dumpfen Wehklagen der im Diesjährigen Krieg hinter den Mauern des Städtchens dicht zusammengepferchten Bevölkerung über die hinter dem Bollwerk hastig verscharrten Pesttoten
den Vivat-
dem fröhlichen Hundegebell und den erwartungsvollen Zurufen bei den Jagdausritten des Landgrafen und seiner Gäste
oder von einigen Feldfreveln im 19. Jahrhundert in unmittelbarer Nachbarschaft des Bollwerks, als z. B. verbotenerweise ein Lehrjunge Mirabellen abgemacht, ein Lichtenberger ein Sacktuch Kirschen gebrochen oder eine Frau aus Wembach 1/2 Kumpf Kartoffeln ausgemacht hat
oder aber dem ersten tète-
dem erkundungsfreudigen Herumtoben der Lichtenberger Buben an, um und verbotenerweise auch –
von den umsichtig konservierenden Maßnahmen der Denkmalfachleute
von den umtriebigen Bemühungen der Ortsoberen am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Erlangung des Prädikats “Luftkurort” für Lichtenberg
schließlich von den vielfältigen Aktivitäten des Verkehrs-
aber auch nicht zuletzt von den zahllosen Besuchern dieses alten Gemäuers in neuerer Zeit, von denen vielleicht mancher, der auf der Plattform steht und seinen Blick sinnend hinüber zum Schloss und über die anmutige Landschaft schweifen lässt, über den Lauf der Dinge räsoniert und sich dabei vielleicht auch des Funktionswandels dieses alten Turmes, vom einst feuerspeienden Geschütz-
Dieser Aufsatz zum Thema “500 Jahre Bollwerk” stammt von Herrn Winfried Wackerfuß, Groß-
Wir präsentieren diesen mit freundlicher Genehmigung des Herrn Wackerfuß. Vielen Dank!