500 Jahre Bollwerk – ein Aufsatz von Winfried Wackerfuß

Die charakteristische Silhouette Lichtenbergs – vor allem von Norden aus gesehen – bildet das Schloss Lichtenberg in seiner Spornlage auf einer Granitkuppe in das Fischbachtal hineinragend, zum weiteren auf einer Anhöhe etwas westlich davon das Bollwerk …

… und schließlich noch weiter im Westen auf der Höhe der “Altscheuer” der Ringwall Heuneburg, der in älteren Topographien auch als “altes Schloss” bezeichnet wird. Schloss Lichtenberg, das Bollwerk und die Heuneburg sind nicht nur die bedeutendsten Denkmäler Fischbachtals und dieser Region, sondern sie sind auch Beispiel einer Befestigungskontinuität, welche diesen ausgesprochenen Mittelpunktsraum, das Kernland des früheren Amtes Lichtenberg, durch die Jahrhunderte hindurch sicherte.

Bis zum Jahre 1570, dem Beginn der Erbauung des Schlosses Lichtenberg, so wie es sich heute darbietet, stand an dieser Stelle eine Burg der Grafen von Katzenelnbogen, die zu diesem Zeitpunkt weitgehend dem Schlossbau weichen musste. Lediglich die Vorburg im unteren Teil der Anlage und das “alte Katzenelnbogener Schloss’ im Bereich der heutigen Schlossterrasse, das 1845 schließlich einstürzte, blieben damals bestehen. Davor lag noch die ebenfalls befestigte Burgsiedlung, ursprünglich überwiegend aus Behausungen der Burgmannen bestehend, für die, zusammen mit Groß-Bieberau, Graf Diether Vl. von Katzenelnbogen 1312 stadtartige Rechte durch Kaiser Heinrich VII. erhielt. Während vor allem für die Burg bzw. das Schloss zahlreiche urkundliche Belege vorliegen, tappte man insbesondere für die Erbauungszeit des Bollwerkes – lange Zeit im Dunkeln.

Welche Bedeutung hat überhaupt dieser große runde Turm, das Bollwerk, der in rd. 400 m Entfernung vom Schloss bzw. der Burg, weit außerhalb dieser Befestigungsanlagen errichtet wurde?

Das Wissen um die ursprüngliche Funktion dieses Turmes scheint schon vor 200 Jahren recht unklar oder verblasst gewesen zu sein. So schreibt z.B. A. Paul in seiner “Kurzgefassten statistisch-topographischen Beschreibung des Großherzogtums Hessen” im Jahre 1823: “Und, wen die mit Strick und Dolch richtende Vehme interessiert, der besuche das Schloß Lichtenberg auf einer stattlichen Höhe, im Seitenthale der Gersprinz, woselbst, noch zu Ende des 15. Seculums ein Freistuhl seinen Sitz gehabt. Vielleicht war es im alten, runden Thurm, der vor dem Schlosse steht, wo die Schöffen, in Nacht und Graus gehüllt, ihre furchtbaren Versammlungen hielten.”

Das Bollwerk vermutlich also als Sitz eines heimlichen Gerichts, des berüchtigten Vemegerichts? Der Wahrheit etwas näher kommt da schon 4 Jahre später der bekannte Topograph Wagner in seiner Beschreibung des Landratsbezirks Reinheim, wenn er schreibt: “Das Bollwerk befindet sich nicht weit vom Schlosse, ist ein runder, halbverfallener, mit Gesträuch bewachsener Thurm, der von ausnehmender Festigkeit ist,” und damit die charakteristische Stärke und Wuchtigkeit diese Turmes herausstellt. Letztlich erschließt sich Sinn und Zweck dieser Anlage, als ein – wie man heute weiß Batterie- bzw. Geschützturm aber erst, wenn man die baulichen Besonderheiten dieses Turmes und seine Lage in Bezug auf das Schloss etwas genauer in Augenschein nimmt.

Der Turm ist 15 m hoch, hat einen Durchmesser von 18,90 Metern und einen Umfang von 60 m. Das ebenerdige untere Geschoss besitzt eine Mauerstärke von 5,80 Metern. Zur Verteidigung des Eingangs ist unmittelbar darüber eine Pechnase mit gotischem Maßwerk angebracht, zur Abwehr des bis an den Eingang vorgedrungenen Feindes, durch die man kochende Flüssigkeit schütten konnte. Sowohl der ebenerdige runde Innenraum wie auch der im ersten Geschoss, zu dem eine in die Mauer eingebaute Treppe führt, sind kuppelförmig mit Backsteinen eingewölbt und haben eine lichte Weite von 7,30 m. Im ersten Geschoss befinden sich Schießnischen, die gerade so groß sind, dass ein Büchsenschütze darin stehen und sich bewegen konnte. Der Einbau einer Abortanlage zeigt, dass man sich auch auf längere Aufenthalte in dem Turm eingerichtet hat. Neben der Pechnase ist eine größere Schießkammer, welche man für sich verschließen und verrammeln konnte. Das oberste, offene Geschoss diente als Wehrplatte der Aufstellung von größeren Geschützen. Ein kreisrunder Schacht verbindet in der Mitte des Turmes die einzelnen Stockwerke. Er diente nicht nur als Abzug für den Pulverdampf, sondern auch zum Transport von Geschützrohren und anderen Gegenständen und zur Durchsage von Befehlen. Die Außenmauer des Turmes ist durchbrochen von Schießscharten (sog. Maulscharten) und Abzugslöchern der Kanäle für Pulvergase. Den Zweck als vorgeschobener und mit Pulverschusswaffen armierter Batterieturm unterstreicht auch seine Lage auf einem Felskopf, womit er weithin die Gegend beherrscht.

Geradezu schwärmerisch lässt sich Johannes Feick vor fast genau einhundert Jahren über die prächtige Rundsicht aus, die man von den Zinnen des Bollwerks hat. Ich zitiere: “Nach Norden schweift nämlich der Blick über GroßBieberau, Reinheim, Dieburg bis Frankfurt, wo die blauen Linien des Vogelsberges und Spessarts den Blick begrenzen. Ostwärts ist der Otzberg und der östliche Odenwald sichtbar, vor uns liegen Städtchen und Schloß Lichtenberg, im Thal dahinter Obern- und Niedernhausen, darüber hinweg ist die Nonroder Höhe mit dem gleichnamigen Dörfchen zu sehen, dessen Häuser herübergrüßen. Gehen wir weiter nach rechts, so liegt das obere Fisch- oder Steinbachthal vor uns; zunächst breitet sich der Herrnsee vor uns aus, eine weite Wiesenfläche, welche 1623 durch Ablassung des Sees geschaffen wurde. Der Herrnseedamm ist noch heute vorhanden ‘ vor zehn Jahren wurde die neue Kreisstraße nach Messbach darüber geführt. Die östliche Thalseite ist von dem stark bewaldeten Spitzen Steinkopf mit dem felsenreichen Kirnbölrücken begrenzt und abgeschlossen. Dahinter schimmern hell aus einem engen Hochgebirgsthale die Häuser des Dörfchens Messbach hervor. Noch weiter nach rechts gehend, führt uns der Blick thalaufwärts über Billings hinweg nach dem Märkerdorf Steinau, welches gleichfalls in einem Hochgebirgsthale liegt, und der dichtbewaldeten Neunkircher Höhe zu. Davor erhebt sich gerade im Süden die ebenfalls bewaldete Keinbachhöhe und schließt die Aussicht nach dieser Richtung ab. Südwestlich fliegt der Blick über eine anmutige Landschaft von niederen Bergen, Feldern und Wäldern in harmonischer Abwechslung, bis er an dem hochaufragenden Felsberg haften bleibt, dessen neuerbauter Ohlyturm sich deutlich am Himmel abhebt. Wenden wir uns weiter nach Westen, so werden der Malchenberg, der Frankenstein und der Roßberg nach einander sichtbar und ist die Rundsicht damit abgeschlossen.”

Diese geradezu enthusiastische Beschreibung, die einem Fremdenverkehrsprospekt entnommen sein könnte, lässt unwillkürlich an die Möglichkeiten einer weiten Rundumsicht denken, wie sie zahlreiche Warttürme aus dem ausgehenden Mittelalter in unserer Landschaft bieten. Für die Wahl des Standortes waren freilich primär strategische Gesichtspunkte maßgebend, ist der Turm doch so angelegt, um flankierend in die Straße von Rodau schießen zu können und um die Anmarschstraße zum Schloss hinauf abzuschnüren. Seine Aufgabe war es also, die Zufahrten zur Siedlung und das Schloss selbst zu schützen. Veränderungen im Kriegswesen, vor allem durch die Erfindung des Schießpulvers, machten den Umbau der mittelalterlichen Burg zu einer neuzeitlichen Festung notwendig. Dabei kam es auch darauf an, einen Angreifer schon im Vorfeld mit weitreichenden Waffen abzuwehren bzw. ihn durch geeignete Verteidigungsanlagen von der Kernanlage auf Distanz zu halten.

Die Angaben über die Erbauungszeit schwankten ursprünglich ganz erheblich und reichten von etwa dem Jahre 1400 bis etwa 1520, bis sich vor einiger Zeit in dem mittelalterlichen Rechnungsbestand des Staatsarchivs Marburg die Baurechnung für das Bollwerk aus dem Jahre 1503 fanden. Sie trägt die Überschrift: “Ußgyfft buwegelts im ampt Lichtenbergk an dem bolwerck uff dem Gogelitz verbewet worden” Ihr lassen sich die folgenden aufschlussreichen Angaben entnehmen: Über das ganze Jahr 1503 sind Steinbrucharbeiten überliefert, dazu 2.808 Malter Kalk sowie 16.700 Backsteine, die man “auf der Hütte bei Worms” gekauft hatte. Die drei Zimmerleute Hans, Ewald und Peter brauchten insgesamt 20 Tagwerke für die Arbeit am Baukran, wofür sie 3 Goldgulden und 2 Albus bekamen. Im Juli 1503 begannen die Entlohnungen für die Maurer. Die Bauarbeiten wurden von Steinmetzmeister Hans geleitet, dem durchschnittlich 14 Maurer und 10-14 “Opperknechte” (Handlanger) zur Seite standen. Ab August werden in der Rechnung Einzelausgaben aufgeführt, wie Nägel zum Beschlagen von 5 Türen und andere Dinge, die für die “schieslucher” (die Schießlöcher) nötig waren. Der Steinmetzmeister Hans erhielt am 26. November 3 fl. 1 alb. Lohn für 17 Wintertage, die er an den Türen und “kannelstucken” gearbeitet hat. Mit diesen “kannelstucken” sind wohl die Wasserspeier unter der Wehrplatte gemeint, ein Hinweis darauf, dass das Bollwerk von Anfang an kein Dach hatte, so wie auch auf den frühesten Abbildungen von Dilich, Valentin Wagner und Merian zu sehen ist. Schließlich wurden am 28. Dezember 1503 der Zimmermann Hans und sein Sohn mit 5 Goldgulden entlohnt, weil sie 48 1/2 Arbeitstage an einer “wern” zimmerten, “soe man, zum bulwerck zu fert” wie es in der Rechnung heißt. Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser “Were” um einen Palisadenzaun, der die Verbindung zwischen Bollwerk und der Burg herstellte, und den man auf der Ansicht von Merian erkennen kann. Der angebliche unterirdische Gang, der zwischen dem Bollwerk und dem Schloss bestanden haben soll, ist sicherlich in den Bereich der Sage zu verweisen. Wie in den meisten Fällen anderenorts sind solche unterirdischen Gänge als Ausdruck dafür zu werten, dass zwischen den Gebäuden an den Endpunkten solcher Gänge einst irgendwelche Beziehungen bestanden. Insgesamt wurden allein den Maurern und Steinmetzen 1503 rund 364 Goldgulden für zusammen 1.554 1/2 Tagewerke ausgezahlt. Soweit die Baurechnung von 1503, auf der das heutige Jubiläum gründet.

Neben den genannten Arbeiten der Handwerker wurde ein erheblicher Teil der Arbeiten am Bollwerk – vor allem der Transport von Baumaterial – im Frondienst durchgeführt, wie einer undatierten Bittschrift der “Frondörfer im Amt Lichtenberg” zu entnehmen ist, in der man sich auf das Bollwerk bezog und darum ersuchte, dass auch die “Hintersassen” der zum Amt Lichtenberg gehörigen Herrschaften der “Gutsjunker” bei diesen Fronarbeiten hinzugezogen würden. Mit dem Jahr 1503 fällt die Erbauung des Bollwerks in die landgräflich hessische Zeit, als an der Stelle des erst rund 70 Jahre später erbauten Schlosses noch die Burg der Grafen von Katzenelnbogen stand. Die Grafen von Katzenelnbogen waren 1479 ausgestorben. Erbe war der Landgraf Wilhelm von Hessen, der Vater Philipps des Großmütigen. Bei der Teilung Gesamthessens unter die Söhne Philipps 1567 fiel die ehemalige Obergrafschaft Katzenelnbogen und damit auch Lichtenberg an den Begründer der Linie Hessen-Darmstadt Georg I., der zwischen 1570 und 1581 nach teilweisem Abbruch älterer Katzenelnbogener Baulichkeiten das heutige Schloss Lichtenberg erbauen ließ. Schon sein Großvater, der oben genannte Wilhelm II., der überwiegend in Kassel und Marburg residierte, muss die Notwendigkeit des Umbaues der mittelalterlichen Burg zu einer neuzeitlichen Festung erkannt haben, denn in seine Regierungszeit fiel die Errichtung des Bollwerks. Sein Amtmann in Lichtenberg war zu dieser Zeit Reinhard d. Ä. von “Boyneburg”.

Konkreter Anlass für die Verstärkung der Festung Lichtenberg durch den Bau des Bollwerks im Jahre 1503 dürften die Spannungen und der Streit zwischen Landgraf Wilhelm II. und Pfalzgraf Philipp über die pfälzischen Lehen in der Obergrafschaft und das Wittum der Witwe Landgraf Wilhelms III., Elisabeth von der Pfalz, gewesen sein, weswegen in diesem Jahr ein Krieg zwischen Hessen und Kurpfalz auszubrechen drohte. Zu schweren kriegerischen Handlungen kam es dann schließlich ein Jahr später, 1504, im Rahmen des bayrisch-pfälzischen Erbfolgekrieges, in dessen Verlauf Landgraf Wilhelm II. an der Spitze eines Heeres von über 30.000 Soldaten im Auftrag König Maximilians nur allzu bereitwillig die pfälzischen Besitzungen im Vorderen Odenwald und an der Bergstraße verwüstete. Hoffte er dabei auch für sich auf territoriale Beute. Das pfälzische Groß-Umstadt. fiel damals in seine Hand. Bei den Kämpfen um dieses Städtchen wurde sein Amtmann auf Lichtenberg, Reinhard von Boyneburg, tödlich verwundet. Ob das Bollwerk neben seinem Zweck als Festungsturm auch die Stelle eines Bergfrieds oder einer Zitadelle vertrat, wo die bedrängten Bewohner des Städtchens und der Burg noch Schutz und Unterkunft finden konnten, wenn Burg und Stadt schon verloren waren, darüber schweigen die Quellen.

Vor allem der Dreißigjährige Krieg brachte gerade für diese Region immer wieder neue Not- und Schreckenszeiten, da es sich in einer Randzone der großen Durchmarsch- und Aufmarschgebiete des militärischen Geschehens befand. Der Groß-Bieberauer Pfarrer Magister Johann Daniel Minck hat in seinen Aufzeichnungen im Salbuch der Pfarrei, zu der auch Lichtenberg gehörte, die furchtbaren Zeiten in anschaulicher Form überliefert. Die Festung und das Schloss spielten dabei eine besondere Rolle, da man sich aus der näheren und weiteren Umgebung dorthin flüchtete, um den täglichen Gefahren durch die verwilderte Sodateska und den ihr folgenden Plünderern und Marodeuren oder den immer wieder ausbrechenden Seuchen, vor allem der Pest, zu entgehen. Lichtenberg, das zu dieser Zeit außer dem Schloss gerade einmal 7 Häuser zählte, wurde in diesen Zeiten wie auch in den folgenden Kriegsepochen bis zu seinem Ende als Festung noch einmal zur “Fluchtburg”.

Über Lichtenberg lesen wir in der “Minckschen Chronik” u.a.:

1622: “Der Graff von Mansfeld … kompt mit großer macht in Darmbstatt und dass gantze Land, plündert alles auss, ausgenommen Lichtenbergk…”

1634: “Lichtenbergk, Rüsselsheim und Otzbergk … plieben allein salvirt (bewahrt), wurden aber dermaßen von beeden parteyen geschätzt und beträngt, dass sie doch allen vorrath herauslangen musten.” “Darumb flohe alles auff die schlößer, da lagen alle gaße, Höffe und Winckell voller leutte, besonders zu Lichtenbergk, weiches ein klein beheiff, und derhalben auch vielle im regen, schnee und kälte under freyhen himmel lagen, theyls lagen in fäßern und büdden, die stubben waren winters Zeitt so voll, dass wegen der menge keines sitzen, sondern dücht ineinand stehn musten, war ein gross Jammer und Elend anzusehen, zu geschweigen selbsten mit darin begriffen sein.”

Und zu 1635: “inzwischen und neben der kriegs-ruthen schickte Gott hinder unss her die pestilentz “Darzu sind wenig uff den kirchhoff gekommen, sondern wegen groser onsicherheit zu Haussen (Niedernhausen) und Lichtenbergk auswendig an die berge uff wießen, äckher, Weinberge und gärten, besonders gegen dem bollwerk neben dem Eselspfad mitt großer menge begraben worden…”

Die Landgrafen von Hessen-Darmstadt residierten zwar überwiegend im Schloss in Darmstadt, aber sie wählten Lichtenberg immer wieder zu einem längeren Aufenthalt mitsamt der Regierung und dem ganzen Hofstaat, vor allem während der Stürme des Diesjährigen Krieges. So verfasste Landgraf Ludwig V. ein Jahr vor seinem Tod in Lichtenberg sein Testament, 1629 floh Landgraf Georg II. mit seiner Regierung vor der Pest in das Schloss Lichtenberg, ebenso residierte er in den Jahren 1652, 1653 und 1657 hier.

Daneben war Lichtenberg schon früh Verwaltungsmittelpunkt, Sitz eines Amtes. Diese Umstände machten auch eine entsprechende militärische Besatzung erforderlich. Waren mit der Burghut ursprünglich noch adelige Lehensträger aus der Umgebung und teilweise das Aufgebot der Centmannschaft betraut, so war mit dem Ausbau Lichtenbergs zur Festung dafür auch noch eine größere Anzahl spezialisierter Kräfte notwendig, die auch mit den Geschützen umgehen konnten. Die Größe der Besatzung richtete sich dabei allerdings nach den jeweiligen möglichen Bedrohungen von außen. So befahl z.B. die Regentin Elisabeth Dorothea 1684, dass – statt der aus der Centmannschaft bestehenden Besatzung Lichtenbergs – vorerst nur der Burggraf nebst Pförtner und Hausknecht das Schloss bewachen sollten, weil die Centmannschaft auch zu Haus zu den ländlichen Arbeiten nötig war.

Doch schon 4 Jahre später, während der Eroberungskriege Ludwigs XIV. von Frankreich, erhielt Lichtenberg 1688 auf Weisung Landgraf Ernst Ludwigs eine Besatzung von 60 Mann unter einem Leutnant, mit dem ausdrücklichen Befehl, weder Franzosen noch andere Völker einzulassen. Danach ging es mit der Bedeutung Lichtenbergs als Festung rasch zu Ende.

1703 beschwerte sich der Oberamtmann zu Lichtenberg von Hartenfels beim Landgrafen über den Verfall der Verteidigungswerke und den schlechten Zustand der Kanonen. Im Frühjahr 1735 wurden die Befestigungen und Geschütze letztmals ausgebessert. Damals fand sich noch folgendes Inventar vor: Auf dem Bollwerk: 3 metallene Stücke (= Kanonen) von 6 1/2 – 7 1/5 Fuß Länge (ca. 2 m) und 4 Doppelhacken (= schwere Schießgewehre, die beim Schießen aufgelegt werden). Auf der Ringmauer: ein Geschwindstück (= ein schnellfeuerndes Geschütz) von 6 Fuß Länge und 2 Geschütze von 4 1/2 Fuß Länge. Auf der hohen Batterie: 3 Geschütze, eins davon 4 1/2 Fuß und 2/3 Fuß lang sowie eine 5 Fuß lange eiserne Feldschlange. In der Gewehrkammer: mehrere Musketen mit Luntenschlössern, eine Anzahl Doppelhacken, ein Pechkranz mit Geschoß, ein eiserner Katzenkopf, einige Hundert Handgranaten, viele Musketenkugeln, mehrere Morgensterne, viele Pechkränze, Lunten und mehrere Tonnen Pulver.” Drei der hier aufgeführten Kanonen – eine davon übrigens auf dem Bollwerk – trugen das Wappen der Herren von Wallbrunn. Sie waren den Wallbrunnern nach der Beschießung und Einnahme des Schlosses Ernsthofen im Jahre 1569 durch Landgraf Georg 1. abgenommen worden und ergänzten seitdem das Arsenal in Lichtenberg.

Auch der Umstand, dass 1740 Lichtenberg als Witwensitz von der landgräflichen Familie aufgegeben und geräumt wurde, machte eine größere Besatzung und Armierung der Festung Lichtenberg nun nicht mehr notwendig. In diese Zeit gehört wohl auch die Randbemerkung, welche sich in einem Exemplar der Darmstädter Landesbibliothek von Winckelmanns Beschreibung über Hessen befindet. Es heißt da:

“Nahe an dem Schlosse Lichtenberg liegt ein alter, ziemlich hoher, stumpfer Turm, da man mit einer ziemlich hohen Leiter hinansteigen muß, mit einer gewaltigen dicken Mauer, drei Stockwerke über einander, darauf steht ein Kl(ein) Wachthaus und 2 Metallene Stücke, eins mit dem Wallbrunnischen Wappen, das andere ein Falconet. Dieser Thurm als eine Warte, muß sehr alt seyn, und findet sich nirgends eine Jahr Zahl daran. Kann man von oben biß unten in der Mauer hinunter gehen, unten ist ein Thor gewesen, so aber zugemauert ist.”

Schließlich wurden im Jahre 1770 die noch in Lichtenberg befindlichen Doppelhacken nach Darmstadt verbracht und auch die Festungsanlagen nicht weiter instand gehalten, ja späterhin sogar teilweise abgebrochen.’ Nach der Auflösung des Oberamtes Lichtenberg und der Verlegung des Landgerichtes nach Reinheim am Anfang bzw. um die Mitte des 19. Jahrhunderts war gerade mal ein Wärter für das gesamte Wachtwesen der ehemaligen Festung Lichtenberg übriggeblieben.

Es mutet uns heute geradezu skurril an, wenn wir aus Berichten von Augenzeugen dieser Zeit lesen, dass die oberste Plattform (Plateau) des ehemaligen runden Schutzturmes neben dem Haupteingang des Schlosses dem Pförtner 1847 zum Blumengärtchen diente und dass er gleichzeitig auf einem anderen viereckigen Verteidigungsturm, der zuweilen als Gefängnis gebraucht wurde, Runkelrüben pflanzte, zu denen man nur mittels einer Leiter gelangen konnte. Während diese Türme heute verschwunden sind, hat das Bollwerk relativ unbeschadet die Zeit überstanden.

Mit dem Verlust seiner Funktion rückte auch das Bollwerk eine Zeitlang aus dem Blickpunkt des Interesses und verfiel in einen Dornröschenschlaf. 1827 war seine oberste Plattform verwildert, mit Gesträuch bewachsen; 1924 gedieh hier oben sogar noch ein Kirschbaum und trug Früchte. Wenn wir dann noch hören – wie vor kurzem der Presse zu entnehmen war –, dass hitzegeplagte Anwohner noch in jüngerer Zeit in sommerheißen Nächten bisweilen nachts mit ihrem Bettzeug in den alten Turm zogen, um in seiner Kühle erquickenden Schlaf zu finden, kann man nur sagen, weich eine ungewöhnliche Wandlung der Zwecke!

Ein halbes Jahrtausend ist eine lange Zeit, eine kleine Ewigkeit. Für diese Zeitspanne haben wir nun von außen auf die Entwicklung des “Jubilars” geschaut.

Wechseln wir doch einmal kurz die Perspektive, um diese Zeitspanne so recht deutlich und lebendig werden zu lassen und fragen uns, wovon die Steine des Bollwerks in knappen Streiflichtern erzählen könnten, z.B.

von der beschwerlichen, schweißtreibenden Arbeit des Steinebrechens in den Steinbrüchen den knarrenden und ächzenden schwerbeladenen Wagen der Fronpflichtigen den Flüchen und dem Jammern der Fröner über die gleichzeitig zu Hause liegen gebliebene Arbeit auf den Höfen

den Kommandos und schrillen Anweisungen der Bauleute

den lobenden Worten des Amtmannes bzw. des Landgrafen bei der ersten Besichtigung des fertigen Turmes

dem donnernden Krach der Geschütze, seinem Nachhall in den Tälern um Lichtenberg, dem Pulverdampf und den hektischen Kommandorufen der Offiziere

dem dumpfen Wehklagen der im Diesjährigen Krieg hinter den Mauern des Städtchens dicht zusammengepferchten Bevölkerung über die hinter dem Bollwerk hastig verscharrten Pesttoten

den Vivat-Rufen der Lichtenberger bei der Vorbeifahrt der Kutschen des Landgrafen und seines Hofstaates auf das Schloss

dem fröhlichen Hundegebell und den erwartungsvollen Zurufen bei den Jagdausritten des Landgrafen und seiner Gäste

oder von einigen Feldfreveln im 19. Jahrhundert in unmittelbarer Nachbarschaft des Bollwerks, als z. B. verbotenerweise ein Lehrjunge Mirabellen abgemacht, ein Lichtenberger ein Sacktuch Kirschen gebrochen oder eine Frau aus Wembach 1/2 Kumpf Kartoffeln ausgemacht hat

oder aber dem ersten tète-à-tète manch Lichtenberger Paares zur abendlichen Stunde im Schatten des alten Turmes

dem erkundungsfreudigen Herumtoben der Lichtenberger Buben an, um und verbotenerweise auch – auf dem Turm

von den umsichtig konservierenden Maßnahmen der Denkmalfachleute

von den umtriebigen Bemühungen der Ortsoberen am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Erlangung des Prädikats “Luftkurort” für Lichtenberg

schließlich von den vielfältigen Aktivitäten des Verkehrs- und Verschönerungsvereins in den letzten Jahrzehnten um die Gestaltung und Pflege, nicht zuletzt im unmittelbaren Umkreis des Turmes,

aber auch nicht zuletzt von den zahllosen Besuchern dieses alten Gemäuers in neuerer Zeit, von denen vielleicht mancher, der auf der Plattform steht und seinen Blick sinnend hinüber zum Schloss und über die anmutige Landschaft schweifen lässt, über den Lauf der Dinge räsoniert und sich dabei vielleicht auch des Funktionswandels dieses alten Turmes, vom einst feuerspeienden Geschütz- und Festungsturm zum behäbig dahin gelagerten Aussichtsturm bewusst werden mag – eben des vorhin angesprochenen Wandels der Zwecke –, eines Wandels, den wir nach den Erfahrungen zweier Weltkriege im gerade abgelaufenen Jahrhundert nur allzu freudig begrüßen können.

Dieser Aufsatz zum Thema “500 Jahre Bollwerk” stammt von Herrn Winfried Wackerfuß, Groß-Bieberau.

Wir präsentieren diesen mit freundlicher Genehmigung des Herrn Wackerfuß. Vielen Dank!

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